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Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen

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iconSynonyme

Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen, Psychische Belastung von Kindern, Psychische Belastung von jugendlichen

iconBemerkungen

Die Jungen haben noch einen Grossteil ihres Lebens vor sich. Das ist zwar ein Glück, doch schafft es auch viel Unsicherheit. Das hat nicht nur mit Corona zu tun, sondern vor allem damit, dass die jungen Menschen heute mit allen schlimmen Nachrichten dieser Welt konfrontiert sind. Sie machen sich Sorgen wegen des Klimas, des Kriegs, der Umweltverschmutzung, der Arbeitssicherheit, der Armut. Nicht nur die gefühlte Bedrohung ist gestiegen, sondern auch der gesellschaftliche Druck und der Wettbewerb. Junge vergleichen sich auf Social Media ständig mit anderen. Wir haben uns früher auch verglichen, einfach auf dem Fussballfeld oder in der Disco. Das ist etwas anderes, heute herrscht der permanente, weltweite Vergleich. Viele Junge wollen ebenso schön und erfolgreich sein wie die Influencer und definieren sich vermehrt über Likes und Klicks. Kommt dazu, dass sie etwa eine bis zwei Stunden weniger schlafen als frühere Generationen. Viele sind ständig online, gamen, schauen Serien. Dabei geht der Realitätsbezug verloren, und sie vereinsamen. Die ständige Angst, etwas zu verpassen, der Wettbewerb, die Daueranspannung und die Übermüdung fördern psychische Störungen. Wir benötigen soziale Ressourcen, die uns Halt geben, also Familie, Freunde, Nachbarschaft, Religion und andere Gemeinschaftsstrukturen vor Ort. Sonst fällt man als junger Mensch ins Bodenlose.
Von Kurt Albermann im Text «... das kann manch eine junge Frau zur Verzweiflung bringen» (2023)
MIT Technology Review 6/2023In einem Kopenhagener Vorort findet in einer fünften Klasse das wöchentliche Kuchenessen statt, das ist Tradition in dänischen öffentlichen Schulen. Während die Kinder Schokoladenkuchen essen, zeigt ihre Lehrerin Henriette Viskum ein Balkendiagramm auf dem Whiteboard. Die Daten sind so angeordnet, dass sie die wöchentliche „Stimmungslandschaft“ der Klasse anzeigen. Gesammelt hat sie eine digitale Plattform, die Daten über das Wohlbefinden der Kinder zusammenfasst. Diese Woche hatte die Klasse im Durchschnitt eine Stimmung von 4,4 von 5 und die Kinder bewerteten ihr Familienleben als sehr gut. „Das ist großartig!“, ruft Viskum und hebt zwei Daumen in die Höhe. Dann klickt sie zu einer Infografik über Schlafhygiene. Die Daten zeigen, dass die Schüler Probleme haben. Ihre Lehrerin fordert sie auf, darüber nachzudenken, wie sie ihre Schlafgewohnheiten verbessern können. Nach einer kurzen Diskussion schlagen die Kinder „weniger Bildschirmzeit am Abend“, „Meditation vor dem Schlafengehen“ und „ein heißes Bad“ vor. Sie verpflichten sich gemeinsam, diese Strategien umzusetzen. Beim Kuchenessen in der nächsten Woche werden sie gefragt, ob sie sich daran gehalten haben oder nicht. Wie ist die Stimmung in der Klasse? Mit Apps wie Woof will die dänische Regierung ihre Schulkinder aus der psychischen Gesundheitskrise herausholen., Foto: Woof Wie ist die Stimmung in der Klasse? Mit Apps wie Woof will die dänische Regierung ihre Schulkinder aus der psychischen Gesundheitskrise herausholen. Foto: Woof Diese Art von datengesteuerten Wohlfühl-Audits wird in Dänemarks Klassenzimmern immer häufiger durchgeführt. Das Land ist seit Langem führend bei Online-Diensten und -Infrastrukturen und rangiert in der E-Government-Umfrage der Vereinten Nationen als das am besten digital entwickelte Land. In den letzten Jahren haben die Schulen des Landes viel in diese Technologien investiert: 2018 hat die dänische Regierung schätzungsweise vier bis acht Millionen Dollar – ein Viertel des Budgets für Lehrmittel an Gymnasien – für die Anschaffung digitaler Plattformen bereitgestellt. Im Jahr 2021 investierte sie weitere sieben Millionen Dollar. Jetzt sollen diese Technologien helfen, die dänischen Schulkinder aus der tiefen psychischen Gesundheitskrise herauszuholen, in der sie sich gerade befinden. Die Herausforderung, die diese Krise für die Gesellschaft bedeutet, hat eine der größten politischen Parteien des Landes „mit der Inflation, der Umweltkrise und der nationalen Sicherheit“ gleichgesetzt. Zwischen den Jahren 2000 und 2017 hat sich die Anzahl depressiver Kinder unter 15 Jahren verzehnfacht. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte hat sich die Zahl der dänischen Kinder und Jugendlichen mit Depressionen mehr als versechsfacht. Und das ist kein rein dänisches Phänomen. Depressionen bei Kindern werden zwar in Deutschland statistisch nur sehr lückenhaft erfasst, aber zwischen den Jahren 2000 und 2017 hat sich die Anzahl depressiver Kinder unter 15 Jahren laut Statistischem Bundesamt sogar verzehnfacht. Und mit der Pandemie und den damit verbundenen Schulschließungen ist das Problem europaweit regelrecht eskaliert. Eine Meta-Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) hat 22 Studien aus acht Ländern (Deutschland, Norwegen, England, Italien, Island, Niederlande, Schweiz und Israel) mit Daten von über 860 000 Kindern und Jugendlichen vor und nach der COVID-19-Pandemie analysiert. Sie zeigt, dass „Kinder und Jugendliche während der Schulschließungen zu 75 Prozent häufiger generelle Depressionssymptome aufwiesen als vor der Pandemie.“ So gibt auch ein Viertel der dänischen Neuntklässler an, dass sie schon einmal versucht haben, sich selbst zu verletzen. In einem kürzlich von mehr als 1000 dänischen Schulpsychologen unterzeichneten offenen Brief äußerten diese „ernste Bedenken“ über den psychischen Zustand der Kinder, die sie in ihrer Arbeit sehen. Sie sehen „keine Hoffnung auf eine Umkehrung des negativen Trends, wenn nicht sofort Maßnahmen ergriffen werden“. DIGITAL GEGEN DEPRESSIONEN Eine dieser Maßnahmen ist der Einsatz der Plattform Woof, mit der die fünfte Klasse bei Schokokuchen ihre Stimmungslandschaft prüft. Ein dänisches Start-up hat sie entwickelt und sie befragt die Schüler regelmäßig zu einer Reihe von Indikatoren für das Wohlbefinden. Über einen Algorithmus schlägt sie dann Themen vor, auf die sich die Klasse konzentrieren soll. Woof wurde bereits in mehr als 600 Schulen in Dänemark in den Unterricht eingeführt, und eine Handvoll weitere Plattformen haben dänische Schulen ebenfalls übernommen. Die Gründer von Woof sind überzeugt, eine wichtige Nische zu füllen, denn die von der dänischen Regierung jährlich durchgeführte Umfrage zum Wohlbefinden der Kinder liefert nur eine Momentaufnahme, die für politische Entscheidungsträger relevant sein mag; Lehrern, die ein regelmäßiges Feedback benötigen, um ihre Arbeit anzupassen, nützt sie jedoch kaum. „Es besteht einfach ein Bedarf an Tools, mit denen man sich bei den Kindern melden kann, ohne mit allen 24 Kindern sprechen zu müssen, bevor man mit dem Unterricht beginnt“, sagt Mathias Probst, Mitgründer von Woof, „denn bevor man sich versieht, sind 15 Minuten der Unterrichtszeit verstrichen“. Inzwischen setzen auch Schulen in Finnland und in Großbritannien Software zur Überwachung der Stimmung ein. Die Schulbehörden in den USA gehen noch weiter und nutzen Technologien, die über das Sammeln von Selbstberichten hinausgehen: Durch die Überwachung von E-Mails, Chat-Nachrichten und Suchvorgängen auf von der Schule ausgegebenen Geräten suchen sie nach Hinweisen auf bedenkliches Verhalten. Das Potenzial sei groß, war auch Carsten Obel überzeugt. Der inzwischen verstorbene Professor für öffentliche Gesundheit an der Universität Aarhus und Mitentwickler der Plattform Moods sagte 2019 in einem Video: „Wir können digitale Werkzeuge nutzen, um das Wohlbefinden rund um die Uhr zu bewerten. Wie ist der Schlaf? Wie sieht es mit der körperlichen Aktivität aus, wie mit der Interaktion mit anderen? … Wie verhält sich die Bildschirmzeit des Kindes im Vergleich zu körperlich aktiven Zeiten? Das ist von zentraler Bedeutung, um zu verstehen, was Wohlbefinden eigentlich ist.“ „Deren Praxis ist sehr Silicon-Valley-like. Sie predigen Datentransparenz, sind aber selbst nicht transparent.“ Aber an diesem Ansatz gibt es durchaus Kritik. Es gebe kaum Beweise dafür, dass diese Art der Quantifizierung zur Lösung sozialer Probleme genutzt werden könne. Und dass ein Klima der Selbstüberwachung von klein auf die Beziehung der Kinder zu sich selbst und zu anderen grundlegend dahingehend beeinflussen könnte, dass sie sich eher schlechter als besser fühlen. „Wir können kaum in ein Restaurant oder ins Theater gehen, ohne danach gefragt zu werden, wie wir uns dabei fühlen, und ohne hier und da ein Kästchen anzukreuzen“, sagt Karen Vallgårda, außerordentliche Professorin an der Universität Kopenhagen, die sich mit Familien- und Kindheitsgeschichte beschäftigt. „Es gibt eine zunehmende Quantifizierung von Emotionen und Erfahrungen, und es ist wichtig, dass wir uns fragen, ob das der ideale Ansatz ist, wenn es um das Wohlbefinden von Kindern geht.“ Eine weitere offene Frage ist, was die Kinder und ihre Eltern tatsächlich darüber wissen, welche Daten gesammelt werden – und wie sie verwendet werden. Während einige Plattformen behaupten, nur minimale oder gar keine personenbezogenen Daten zu sammeln, graben sich andere tief in die Psyche einzelner Kinder, ihre körperlichen Aktivitäten und sogar in Freundesgruppen ein. „Deren Praxis ist sehr Silicon-Valley-like. Sie predigen Datentransparenz, sind aber selbst nicht transparent“, sagt Jesper Balslev, Forschungsberater an der Copenhagen School of Design and Technology. Balslev sorgt sich, dass diese Plattformen wie Woof schnell und mit einer gewissen Naivität eingeführt werden – ohne Test oder Regel und ohne dass sichergestellt ist, dass die Schulkultur es den Kindern erlaubt, sich nicht an ihnen zu beteiligen. „Unsere Regulierungstechnologien, um damit umzugehen, sind schrecklich“, sagt er. Es sei möglich, dass sich das ändere, fügt er hinzu, „aber im Moment sind alle Herdplatten gleichzeitig aufgedreht.“ EIN HUND FÜR DIE KINDER Woof betreibt mit einem kleinen Team aus drei Vollzeitmitarbeitern ein Kellerbüro am Stadtrand von Kopenhagen. Die Gründer, Mathias Probst und Amalie Danckert, kamen auf die Idee für das Unternehmen, nachdem sie als Lehrer an einer öffentlichen Schule im Rahmen von Teach First Denmark gearbeitet hatten, einer gemeinnützigen Organisation, die Bildungsungerechtigkeit in Dänemark abbauen möchte. Als Probst und Danckert in das öffentliche Schulsystem eintraten, stellten sie schnell fest, dass Schulen in einkommensschwachen Vierteln in einen Teufelskreis führen: Schwierige Lebensumstände im Elternhaus machen die Kinder schwerer beschulbar. Die Fluktuationsrate des Personals ist aufgrund von Stress und Burnout hoch, und Lehrkräfte versuchen, zu weniger fordernden Schulen zu wechseln. Eltern, die über die nötigen Mittel verfügen, schicken ihre Kinder häufig gleich in andere Schulen, sodass der Anteil an Kindern mit größeren Problemen steigt. Das verstärkt den Stress bei den Lehrern, und so weiter … „Ich habe so viele Kinder in schwierigen Situationen gesehen, die hätten verhindert werden können, wenn man früher etwas unternommen hätte“, sagt Danckert. Bevor sie angefangen hat, sich als Lehrerin zu engagieren, hat sie als Analystin in der Kinder- und Jugendabteilung der Kopenhagener Sozialbehörde gearbeitet. Gemeinsam mit Probst, der aus der Beratungsbranche kommt, wollte sie eine Methode entwickeln, die Schulen dabei hilft, solche Situationen zu bewältigen. Ihre Lösung ist die Web-App Woof, auf die Kinder über Computer oder Telefon zugreifen können (eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass 98 Prozent der dänischen Kinder zwischen 10 und 15 Jahren Zugang zu einem Smartphone haben). Auf der Nutzeroberfläche stellt ein Cartoon-Hund den Kindern verschiedene Fragen über ihr Leben und fordert sie auf, ihre Stimmung und andere Aspekte ihres Lebens auf einer Skala von 1 bis 5 zu bewerten. Das Tool soll wöchentlich eingesetzt werden und erstellt so eine Stimmungslandschaft für die Klasse. Mit der Zeit soll dadurch ein umfassendes Bild vom Wohlergehen der Kinder in dieser Klasse entstehen. Lehrer und Verwaltungsangestellte können wöchentliche Berichte über die selbst eingeschätzte Gesamtstimmung einer Klasse abrufen und so erfahren, wie sich Schlafhygiene, soziale Aktivitäten, schulische Leistungen und körperliche Aktivität auf die Stimmung der Kinder auswirken. Die Klassen werden profiliert und erhalten Empfehlungen, wie sie die Ergebnisse in den Kategorien verbessern können, in denen sie weniger gut abschneiden. Schließlich sehen sich Lehrer und Kinder die Daten gemeinsam an und helfen sich gegenseitig mit Instrumenten und Strategien, um diese Schwachstellen zu verbessern. Die Daten von Woof sind anonymisiert; die App berichtet über die Durchschnittswerte von Klassenräumen und nicht über einzelne Kinder. Das Unternehmen wolle nicht bis an die Grenze dessen gehen, was im Rahmen der Datenschutzgesetze machbar sei, sagt Danckert. Und Probst hat Bedenken, für die Kinder durch das Sammeln ihrer individuellen Daten ein Narrativ zu schaffen, in dem sie hängen bleiben, statt dass es ihnen hilft, negative Muster zu durchbrechen. „Es ist besorgniserregend, dass es auf Plattformen, die mit Kindern arbeiten, so viele persönlich zuordenbare Daten gibt“, sagt er. Seit Herbst 2022 läuft die Vollversion von Woof. Beta-Testdaten, die vor der vollständigen Markteinführung an 30 Schulen gesammelt wurden, zeigen, dass sich die Stimmung in 80 Prozent der Klassen, die Woof nutzen, innerhalb eines Monats um durchschnittlich 0,35 Punkte auf einer Skala von 1 bis 5 verbessert hat. Woof betont, dass die Plattform den Kontakt zwischen Lehrer und Schüler nicht ersetzen soll. Sie soll vielmehr als Unterstützungsinstrument für Lehrer verstanden werden, das strukturierte Aktionspläne und Feedback bietet. Allerdings haben, so Balslev, Bildungs-Apps bislang nicht bewiesen, dass sie besser sind als analoge Maßnahmen. Etwa die Aufforderung von Lehrern an die Kinder, ihre Computer auszuschalten, und sie zu fragen, wie sie letzte Nacht geschlafen haben. Er verweist auf eine OECD-Studie aus dem Jahr 2015, in der festgestellt wurde, dass die Digitalisierung der Schulen eine Reihe von Problemen, die sie eigentlich verbessern sollte, verschlimmert hat, mit einem negativen Nettoeffekt auf die Lernergebnisse in einigen Ländern. Zudem gibt es einen guten Grund, Selbstberichte zum Wohlbefinden mit Vorsicht zu genießen: Die Kinder sind möglicherweise einfach nicht ehrlich. Balslev geht nicht davon aus, dass Schüler bei der Einführung von Technologien in einem sozialen Kontext ein ideales Verhalten an den Tag legen und die verfolgten Ziele unterstützen. In Interviews mit ihm hätten Oberstufenschüler beispielsweise berichtet, dass sie digitale Systeme manipuliert hätten, um mehr Zeit für eine Aufgabe zu bekommen oder eine Schreibübung länger aussehen zu lassen, als sie tatsächlich war. Es gibt einen guten Grund, Selbstberichte zum Wohlbefinden mit Vorsicht zu genießen: Die Kinder sind möglicherweise einfach nicht ehrlich. Obwohl unehrliche Antworten natürlich möglich seien, argumentieren Probst und Danckert, dass der anonyme Ansatz von Woof authentische Antworten wahrscheinlicher mache. „Viele Schüler aus einkommensschwachen Gegenden wollen nicht darüber sprechen, was zu Hause passiert, weil sie Angst haben, dass sie damit einen Fall bei einem Sozialamt auslösen“, sagt Probst. Er und Danckert sind der Meinung, dass der anonyme Ansatz Vertrauen aufbaut und eine ehrliche Offenlegung fördert. , Bild: Woof Bild: Woof Woof zeigt den Lehrkräften Durchschnittswerte über das Befinden der Klasse, aber keine Daten über einzelne Kinder. Woof zeigt den Lehrkräften Durchschnittswerte über das Befinden der Klasse, aber keine Daten über einzelne Kinder. , Screenshot: BloomSights Screenshot: BloomSights , Screenshot: Bloomsights Screenshot: Bloomsights Bloomsights trackt die einzelnen Kinder. Die Plattform erstellt aus den Daten umfangreiche Soziogramme, die die Beziehungen der Kinder untereinander darstellen. Bloomsights trackt die einzelnen Kinder. Die Plattform erstellt aus den Daten umfangreiche Soziogramme, die die Beziehungen der Kinder untereinander darstellen. , Screenshot: Klassetrivsel Screenshot: Klassetrivsel Auch Klassetrivsel erfasst individuelle Daten und erstellt daraus Soziogramme. Auch Klassetrivsel erfasst individuelle Daten und erstellt daraus Soziogramme. ÜBERGRIFFIGE APPS Der Unterschied zwischen Woof und den anderen Plattformen – Bloomsights, Moods und Klassetrivsel (dänisch für „Wohlbefinden im Klassenzimmer“) –, die an den dänischen Schulen eingesetzt werden, ist, dass Letztere die Schulkinder individuell erfassen und identifizieren. Bloomsights und Klassetrivsel gehen sogar so weit, „Soziogramme“ zu erstellen – Netzwerkdiagramme, die die Beziehungen der Kinder untereinander im Detail darstellen. Bloomsights verwandelt die Daten aus den Selbsteinschätzungen der Kinder in Indikatoren wie „Anzeichen von Einsamkeit“, „akademische Denkweise“ und „Anzeichen von Mobbing“. „Es sind sehr intime Dinge, die gefragt werden, und die Kinder wissen nicht unbedingt, wer sie sehen wird“, sagt Naya Marie Nord, Lehrerin an einer Schule in einem Vorort von Kopenhagen, die Bloomsights nutzt. „Natürlich sollte ich als Lehrerin einen Einblick in die Gefühle meiner Schüler haben. Aber das ist etwas, das ich lieber in der Vertraulichkeit zwischen mir und dem Schüler vermitteln möchte, als dass es einem Computer mitgeteilt wird.“ Nord ist besorgt darüber, wie viele Lehrer, die nicht direkt mit den Kindern arbeiten, dennoch Zugang zu ihren Daten haben. Die App überschreite ethische Grenzen, wenn man bedenke, wie sehr sie in das Privatleben der Schüler eingreife, sagt sie. „Sie haben keine Chance, zu verstehen, was vor sich geht. Es ist nicht so, dass wir ihnen eine lange Präsentation geben, in der wir erklären, wie die Daten verwendet werden und wer Zugang zu ihnen hat“, sagt Nord. „Und wenn wir das täten, würden wir keine ehrlichen Antworten bekommen.“ Laut den Datenrichtlinien der Plattform Klassetrivsel ist nicht einmal eine Zustimmung der Eltern oder der Kinder erforderlich, bevor die App im Klassenzimmer verwendet wird. Das Unternehmen bezeichnet seine App als integriertes Tool für „Wohlfühlzwecke“ in einer öffentlichen Einrichtung, und damit fällt es unter eine dänische Gesetzesklausel, die öffentliche Behörden von der Einholung der Zustimmung zur Datenerfassung befreit. Und da die Plattformen nicht als „Dienst der Informationsgesellschaft“ wie Facebook oder Google eingestuft werden, ist nach der Europäischen Datenschutzgrundverordnung keine elterliche Zustimmung erforderlich. Dänische Gerichte sehen das jedenfalls so: Im Jahr 2019 reichten Eltern Beschwerde bei der dänischen Datenschutzbehörde ein. Sie waren der Meinung, dass eine solche datengesteuerte Plattform einer Zwangsüberwachung des Kindes gleichkomme. Die Eltern argumentierten weiter, dass „das Messen und Überwachen des Wohlbefindens nicht dasselbe ist wie die Verbesserung des Wohlbefindens“. Das Gericht entschied zugunsten der Schule: Die App sei ein Instrument zur Erfüllung von Aufgaben von „entscheidendem sozialen Interesse“, die in die Zuständigkeit der Schulen fallen. „Normalerweise ist die rechtliche Grundlage für diese Drittanbieter-Apps, dass sie einen Dienst im Auftrag der Behörden anbieten“, sagt der dänische IT-Anwalt Allan Frank. Dennoch müssen sie Daten korrekt speichern und dürfen nicht mehr als nötig sammeln. Außerdem müssen sie unter der Schirmherrschaft einer staatlichen Genehmigung arbeiten, sagt Frank: „Wenn es einen Lehrer oder eine Schule gibt, die so ein Tool ohne die Aufsicht der Gemeinde oder des Bildungsministeriums einrichten, dann wäre das ein Problem.“ GRUPPENZWANG Für Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder solche Plattformen nutzen, ist es nicht immer einfach, sich dagegen zu entscheiden. Aber da die Apps in einem Bildungskontext verwendet und als altruistisch wahrgenommen werden, sind sowohl Eltern als auch politische Entscheidungsträger in der Regel unbesorgt. „Es gibt viele andere Apps, bei denen ich die Nutzung durch meinen Sohn einschränke, aber ich mache mir über Apps, die in der Schule genutzt werden, nicht dieselben Sorgen wie zum Beispiel über TikTok und YouTube“, sagt Janni Hindborg Christiansen, Mutter eines der Kinder in der fünften Klasse, die Woof nutzt. „Wenigstens wird Woof in einer kontrollierten Umgebung verwendet und erfüllt einen guten Zweck. Ich vertraue ihm mehr als vielen anderen Apps, denen ich eher kritisch gegenüberstehe.“ Henriette Viskum, die Lehrerin der fünften Klasse, beschreibt den Woof-Unterricht als Teil des Kernprogramms ihrer Klasse – gleichwertig mit Mathe – und sagt, dass Eltern mit ihr sprechen müssen, um ihr Kind aus dem Programm zu nehmen. „Wenn es ein großes Problem ist, finden wir eine Lösung, und dann muss das Kind nicht teilnehmen“, sagt Viskum. „Aber dann würde ich als Lehrerin ein großes Fragezeichen hinter die Frage setzen, warum die Eltern so stark gegen die Arbeit an dem Wohlbefinden ihrer Kinder sind. Das würde mich schon ein wenig beunruhigen und neugierig machen.“ Die Nähe zwischen Lehrern und Schülern kann auch den Grad der Anonymität verschwimmen lassen. Viskum erzählt, dass sie, wenn zum Beispiel fast die gesamte Klasse beim Thema Familienleben gut abschneidet, ein Kind aber nicht, in der Regel erahnen kann, wer diese Person ist, und dann vielleicht beiläufig versucht, Maßnahmen zur Unterstützung zu ergreifen. THEORIE UND PRAXIS Für Balslev ist die Akzeptanz ausgeklügelter datengesteuerter Lösungen teilweise auf deren politische Attraktivität zurückzuführen. In Dänemark wird die Technologie gerne als Lösung für alles, was mit Unterricht und Bildung zu tun hat, dargestellt. Die einfachen Infografiken, die Edu-Tech-Firmen anbieten, haben seiner Meinung nach eine besondere Anziehungskraft auf Regierungsbeamte, die mit heiklen sozialen und pädagogischen Fragen konfrontiert sind. „Das Tolle an den digitalen Initiativen ist, dass sie die Politiker handlungsfähig erscheinen lassen – als ob sie Entscheidungen getroffen hätten“, sagt Balslev. Aber die Wirksamkeit hat nicht so viel Priorität, sagt er: „Es geht schnell und einfach, einige Kennzahlen zu produzieren, die rhetorisch überzeugend erscheinen. Die Infografik mag ein kleines Stückchen Wahrheit über die Realität liefern, aber sie berührt nicht den Kern der Situation.“ Die Technologie könnte die Situation sogar noch verschlimmern, meint Karen Vallgårda, Forscherin an der Universität Kopenhagen. Sie ist besorgt, dass das „Überwachungsparadigma“ unbeabsichtigte Folgen für das Selbstverständnis der Kinder haben könnte. Karen Vallgårda von der Universität Kopenhagen sorgt sich, dass die Frage, ob Kinder glücklich sind, diese ins Unglücklichsein führt., Foto: Karen Vallgårda Karen Vallgårda von der Universität Kopenhagen sorgt sich, dass die Frage, ob Kinder glücklich sind, diese ins Unglücklichsein führt. Foto: Karen Vallgårda „Wenn wir aufgefordert werden, uns selbst nach einer quantitativen Logik zu kontrollieren, können Gefühle wie Empörung und Trauer als problematische emotionale Reaktionen erscheinen, obwohl sie in bestimmten Lebensszenarien völlig natürlich sind. Die Kinder können das Gefühl bekommen, dass das, was sie empfinden, falsch oder unerwünscht ist, was die Probleme eher noch verstärkt, als sie zu lindern“, sagt Vallgårda. „Wenn wir Kindern ein gewisses Maß an Selbstüberwachung einimpfen, die auf einem klar vermittelten Ideal basiert, wie man seinen Alltag strukturiert, wie man isst und wie man sich in bestimmten Situationen fühlt, besteht die Gefahr, dass Kinder ein ‚doppeltes Unglücklichsein‘ entwickeln, weil sie nicht nur unglücklich sind, sondern auch diesen Idealen nicht gerecht werden.“ Vallgårdas Bedenken teilen andere Forschende. Eine übermäßige Konzentration auf die Frage, ob Kinder glücklich sind, könne dazu führen, dass sie normale Schwankungen im Leben pathologisieren. Neue Studien deuten auch darauf hin, dass das abnehmende Wohlbefinden größtenteils auf Umwelt- und soziale Einflüsse und nicht auf individuelle Faktoren zurückzuführen ist. Vallgårda ist der Ansicht, dass die Schulen, anstatt Ressourcen in Instrumente zu stecken, die eine quantitative Agenda fördern, stattdessen vorrangig Fachkräfte wie Lehrer und Schulpsychologen einstellen und ausbilden sollten. Aber digitale Plattformen sind wesentlich billiger als Personal. Die Lehrerin Henriette Viskum weist auf knappe Budgets und kilometerlange Wartelisten beim Schulpsychologen hin. Das erkläre die Anziehungskraft der Bildungstechnologie, auch wenn es nur wenige Ergebnisse gebe, die ihre Wirksamkeit belegten. Jesper Balslev, Forschungsberater an der Copenhagen School of Design and Technology, sieht die Regulierung von Plattformen wie Woof kritisch., Foto: Jesper Balslev Jesper Balslev, Forschungsberater an der Copenhagen School of Design and Technology, sieht die Regulierung von Plattformen wie Woof kritisch. Foto: Jesper Balslev Während die Quantifizierung des Lebens der Kinder Akademiker eher abschreckt, schätzen die Kinder Woof. Sie benutzen es gerne, erzählen sie zwischen Whiteboard und Schokokuchen. Besonders gefällt ihnen, wie die App ihnen hilft, netter miteinander zu reden. In einer Schule in einem einkommensschwachen Viertel, in einer Klasse, die 3,4 von fünf Punkten auf der Stimmungsskala erreichte, sagte eine Lehrerin, sie sei einfach nur froh, ein Werkzeug zu haben, das ihr eine allgemeine Vorstellung davon geben könne, was mit den Kindern los sei. Mit der Kritik Vallgårdas konfrontiert, sagt Woof-Entwickler Probst: „Es ist schön und gut, ein Theoretiker zu sein und die Meinung zu vertreten, dass man bestimmte Dinge nicht tun sollte, aber es gibt auch eine Realität da draußen in den Klassenzimmern. Es gibt eine praktische Situation, in der Lehrer mit Kindern konfrontiert sind, die sich so sehr abmühen, dass sie während des Unterrichts in Tränen ausbrechen. Da muss man etwas tun.“
Von Arian Khameneh in der Zeitschrift MIT Technology Review 6/2023 im Text Wohlfühl-Kontrolle (2023)

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